Betriebliches Eingliederungsmanagement, § 167 Abs. 2 SGB IX
Das in § 167 Abs. 2 SGB IX (= § 84 Abs. 2 SGB IX a.F.) geregelte betriebliche Eingliederungsmanagement fristet in der öffentlichen Wahrnehmung - aufgrund seiner enormen praktischen Bedeutung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber jedoch völlig zu Unrecht - nur ein Schattendasein. Insbesondere Arbeitgeber sehen sich häufig erstmals in von krankheitsbedingt gekündigten Mitarbeitern angestrengten Kündigungsschutzprozessen mit dem betrieblichen Eingliederungsmanagement - oder kurz BEM - konfrontiert, wenn der gekündigte Mitarbeiter gegen die erfolgte Kündigung einwendet, dass diese infolge der Nichtdurchführung oder der nicht ordnungsgemäßen Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements unverhältnismäßig und damit unwirksam sei. Nicht selten bleibt dem Arbeitgeber dann, kann oder will er den Mitarbeiter nicht weiterbeschäftigen, nur die Möglichkeit, sich die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Zahlung einer Abfindung zu erkaufen, und das natürlich auch nur, wenn sich der betroffene Mitarbeiter nicht widersetzt.
Die Erlangung von Rechtssicherheit für den Ausspruch einer krankheitsbedingten Kündigung ist natürlich nicht (der einzige) Sinn und Zweck des betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 167 Abs. 2 SGB IX. Vorrangig ist nach der Gesetzesintention, Arbeitsunfähigkeit zu überwinden, Arbeitsunfähig vorzubeugen und den Arbeitsplatz zu erhalten.
Anwendungsbereich des Präventionsverfahrens und des BEM
Der Arbeitgeber schaltet bereits bei Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung und die in 176 SGB IX genannten Vertretungen sowie das Integrationsamt (in Bayern: Inklusionsamt)ein, um mit ihnen alle Möglichkeiten und alle zur Verfügung stehenden Hilfen zur Beratung und mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können und das Arbeits- oder sonstige Beschäftigungsverhältnis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann (§ 167 Abs. 1 SGB IX, Präventionsverfahren). Das Präventionsverfahren ist nur bei schwerbehinderten Beschäftigten durchzuführen sowie bei gleichgestellten Beschäftigten i.S.v. § 2 Abs. 3 SGB IX.
Ein betriebliches Eingliederungsmanagement (§ 167 Abs. 2 SGB IX) ist - unabhängig von der Betriebsgröße und unabhängig davon, ob der betroffene Mitarbeiter (schwer-) behindert ist - dann durchzuführen, wenn ein Mitarbeiter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig ist.
Sind Beschäftigte innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, klärt der Arbeitgeber mit der zuständigen Interessenvertretung im Sinne des § 176 SGB IX, d.h. Betriebs-, Personal-, Richter-, Staatsanwalts- und Präsidialrat, bei schwerbehinderten Menschen ausserdem mit der Schwerbehindertenvertretung, mit Zustimmung und Beteiligung der betroffenen Person die Möglichkeiten, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden werden und mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Soweit erforderlich wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen (§ 167 Abs. 1 S. 1 u. 2 SGB IX). Kommen Leistungen zur Teilhabe oder begleitende Hilfen im Arbeitsleben in Betracht, werden vom Arbeitgeber die örtlichen gemeinsamen Servicestellen oder bei schwerbehinderten Beschäftigten das Integrationsamt hinzugezogen (§ 167 Abs. 1 S. 4 SGB IX). Beschäftigte können seit dem 10.06.2021 zusätzlich eine Vertrauensperson eigener Wahl hinzuziehen (§ 167 Abs. 2 S. 2 SGB IX).
Arbeitsrechtliche Bedeutung
Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hat die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements bei der gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer personenbedingten Kündigung wegen Krankheit enorme Bedeutung.
Eine Kündigung ist nach dem das ganze Kündigungsrecht beherrschenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dann unverhältnismäßig und damit rechtsunwirksam, wenn sie durch andere mildere Mittel vermieden werden kann, d.h., wenn die Kündigung nicht zur Beseitigung der betrieblichen Beeinträchtigungen bzw. der eingetretenen Vertragsstörung geeignet oder nicht erforderlich ist. § 167 Abs. 2 SGB IX stellt eine Konkretisierung dieses Grundsatzes dar. Dabei ist das betriebliche Eingliederungsmanagement an sich zwar kein milderes Mittel. Auch kann eine Kündigung nicht allein deshalb wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als sozial ungerechtfertigt qualifiziert werden, weil das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt wurde. Durch das betriebliche Eingliederungsmanagement können aber mildere Mittel, z.B. die Umgestaltung des Arbeitsplatzes oder eine Weiterbeschäftigung zu geänderten Arbeitsbedingungen auf einem anderen Arbeitsplatz, erkannt und entwickelt werden. Der Arbeitgeber darf, wenn er kein BEM durchgeführt hat, sich durch seine dem Gesetz widersprechende Untätigkeit keine darlegungs- und beweisrechtlichen Vorteile verschaffen (BAG, Urteil vom 23.04.2008, Az. 2 AZR 1012/06).
Das Gleiche gilt, wenn der Arbeitgeber zur Erfüllung seiner Verpflichtung aus § 167 Abs. 2 SGB IX ein Verfahren durchgeführt hat, das nicht den gesetzlichen Anforderungen an ein betriebliches Eingliederungsmanagement genügt. Zwar enthält § 167 Abs. 2 SGB IX keine nähere gesetzliche Ausgestaltung des betrieblichen Eingliederungsmanagements. Dieses ist ein rechtlich regulierter Suchprozess, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Gleichwohl lassen sich aus dem Gesetz gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehört es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen eine an den gesetzlichen Zielen des betrieblichen Eingliederungsmanagements orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen keine vernünftigerweise in Betracht zu ziehende Anpassungs- und Änderungsmöglichkeit ausschließt. Ziel des betriebliche Eingliederungsmanagement ist es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist und ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. Wird das durchgeführte BEM-Verfahren nicht diesen Mindestanforderungen gerecht, kann das zur Unbeachtlichkeit des Verfahrens insgesamt führen (BAG, Urteil vom 10.12.2009, Az. 2 AZR 400/08).
Möglich ist natürlich auch, dass auch ein betriebliches Eingliederungsmanagement kein positives Ergebnis hätte erbringen können. Sofern dies der Fall ist, darf dem Arbeitgeber aus dem Unterlassen eines betrieblichen Eingliederungsmanagements kein Nachteil entstehen. Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass ein BEM deshalb entbehrlich war, weil es wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Arbeitnehmers unter keinen Umständen ein positives Ergebnis hätte bringen können, trägt jedoch der Arbeitgeber (BAG, Urteil vom 24.03.2011, Az. 2 AZR 170/10).
Wird ein BEM nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt, kann dies auch Schadensersatzansprüche des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber begründen, wenn der Arbeitnehmer die Versetzung auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz verlangt und näher dargestellt hat und der Arbeitgeber diesem Verlangen trotz tatsächlicher Möglichkeit und rechtlicher Zumutbarkeit nicht nachgekommen ist. Dann ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber bestehen, z.B. in Höhe der Differenz von Krankengeld zu eigentlicher Vergütung, wenn der betroffene Mitarbeiter sich im Krankengeldbezug befindet.
Die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements hängt von der Zustimmung des betroffenen Arbeitnehmers ab. Der Arbeitgeber muss ordnungsgemäß auf die Ziele des BEM sowie auf Art und Umfang der hierfür erhobenen und verwendeten Daten hinweisen (§ 167 Abs. 1 S. 4 SGB IX). Ohne die ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen darf keine Stelle unterrichtet oder eingeschaltet werden. Stimmt der Arbeitnehmer trotz ordnungsgemäßer Aufklärung nicht zu, ist das Unterlassen eines betrieblichen Eingliederungsmanagement kündigungsneutral (BAG, Urteil vom 24.03.2011, Az. 2 AZR 170/10).
Nahezu dieselbe Bedeutung für die arbeitsrechtliche Praxis wie das BEM nach § 167 Abs. 2 SGB IX hat auch das Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX. Hat der Arbeitgeber entgegen § 167 Abs. 1 SGB IX ein Präventionsverfahren nicht durchgeführt, trifft ihn eine erhöhte Darlegungslast im Hinblick auf denkbare, gegenüber einer Beendigungskündigung mildere Mittel, um die zum Anlass für die Kündigung genommene Vertragsstörung zukünftig zu beseitigen. Die erhöhte Darlegungslast entfällt nicht deshalb, weil das Integrationsamt der Kündigung zugestimmt hat.
Sozialrechtliche Bedeutung
Spezifische sozialrechtliche Bedeutung erlangt das BEM und auch das Präventionsverfahren im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Zustimmung des Integrationsamts (in Bayern: Inklusionsamt) zur Kündigung des schwerbehinderten oder gleichgestellten Mitarbeiters. Denn auch hier bei der Behördenentscheidung über die Erteilung der Zustimmung zur Kündigung muss beachtet werden, welche Anpassungs- und Änderungsmaßnahmen zur Verhinderung der Kündigung gesucht, diskutiert und getroffen wurden und welchen Erfolg oder Nichterfolg sie gehabt haben. Wurde ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 2 SGB IX nicht oder nicht ordnungsgemäß durchgeführt, wird eine Kündigung in der Regel nicht gerechtfertigt sein.
Beteiligung des Betriebsrats
Nach § 167 Abs. 2 S. 7 SGB IX hat u.a. der Betriebsrat darüber zu wachen, dass der Arbeitgeber die ihm nach § 167 SGB IX obliegenden Verpflichtungen erfüllt. Der Betriebsrat kann zu diesem Zwecke verlangen, dass ihm der Arbeitgeber quartalsweise die Arbeitnehmer benennt, welche nach § 167 Abs. 2 SGB IX die Voraussetzungen für die Durchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements erfüllen (BAG, Beschluss vom 07.02.2012, 1 ABR 46/10).
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