Rechtsanwalt, Fachanwalt für Sozialrecht, Fachanwalt für Strafrecht Mathias Klose, Yorckstr. 22, 93049 Regensburg

Aussagepsychologisches Gutachten

Das aussagepsychologische Gutachten (Glaubwürdigkeitsgutachten) spielt in vielen Strafverfahren, insbesondere im Bereich der Sexualstraftaten, eine zentrale Rolle. Zwar ist die Würdigung von Zeugenaussagen im Allgemeinen dem Staatsanwalt bzw. dem Richter anvertraut, der Bundesgerichtshof sprich insoweit von der “ureigensten Aufgabe” des Tatrichters. Dennoch gibt es Konstellation, in den das Gericht selbst nicht über die erforderliche Sachkunde verfügt, um die Angaben eines Zeugen als glaubhaft oder nicht glaubhaft zu bewerten. Dann wird ein aussagepsychologisches Gutachten durch die Staatsanwaltschaft oder das Gericht eingeholt zur Prüfung, ob eine Aussage einen Erlebnisbezug hat oder nicht. Die Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens erfolgt regelmäßig bei psychisch kranken Zeugen, bei intelligenzgeminderten Zeugen, bei besonders jungen Kindern als Zeugen oder nach langem Zeitablauf zwischen Tat und Aussage. Auch wenn ein Geständnis eines Beschuldigten zweifelhaft erscheint, kann ein Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt werden.

Üblicherweise wird ein Glaubwürdigkeitsgutachten - abhängig vom Einzelfall und den möglichen Defiziten des Zeugen - von einem Psychologen oder einem Psychiater erstellt.

Das methodische Grundprinzip der aussagepsychologischen Begutachtung besteht darin, die Glaubhaftigkeit der spezifischen Aussage so lange zu verneinen, bis diese Verneinung mit den gesammelten Fakten nicht mehr vereinbar ist. Der aussagepsychologische Sachverständige muss daher bei der Begutachtung zunächst annehmen, dass die Aussage unwahr ist, es handelt sich insoweit um die sogenannte Nullhypothese. Zur Prüfung dieser Annahme hat der Sachverständige weitere Hypothesen zu bilden, die die Herkunft der Aussage, also den unwahren, nicht erlebnisbasierten  Ursprung der Aussage erklären könnten. Als solche Prüfhypothesen kommen etwa die Konfabulationshypothese (Hypothese, dass die Aussage vollständig ausgedacht ist), die Übertragungshypothese (Hypohese, dass etwas Ähnliches in der Vergangenheit schon einmal erlebt wurde und nun auf den aktuellen Sachverhalt übertragen wird), die Wahrnehmungsübertragungshypothese (Hypothese, dass der geschilderte Sachverhalt anderweitig wahrgenommen wurde, z.B. im Fernsehen oder Internet, und nun fälschlicherweise übertragen wird) oder die Instruktionshypothese (Hypothese, dass eine Aussage gezielt durch Dritte veranlasst wird) in Betracht. Ergibt die Prüfstrategie, dass die Nullhypothese, also die Annahme, dass es sich um eine unwahre Aussage handelt, mit keiner der anderen Hypothesen in Übereinstimmung stehen kann, wird sie verworfen, und es ist dann davon auszugehen, dass es sich um eine wahre Aussage mit Erlebnisbezug handelt.

Die aussagepsychologische Begutachtung ist ein umfangreicher psychodignostischer Prozess. Bei der Begutachtung hat sich der Sachverständige selbstredend ausschließlich methodischer Mittel zu bedienen, die dem jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft gerecht werden, auf welche konkrete Art und Weise das Gutachten erstellt wird, bleibt aber dem Sachverständigen überlassen. Üblicherweise findet unter Bezugnahme auf die zunächst gebildeten Hypothesen eine Inhaltsanalyse bezüglich der inhaltlichen Qualität einer Aussage statt Realkennzeichenanalyse), eine Konstanzanalyse bezüglich des Aussageverhaltens insgesamt, eine Fehlerquellenanalyse bezüglich möglicher bewusster und unbewusster fremdsuggestiver Einflüsse sowie eine Kompetenzanalyse in Bezug auf die Möglichkeit der reinen Erfindung einer Aussage oder das Vorhandensein von Parallelereignissen. Bei Sexualdelikten ist grundsätzlich auch eine Sexualanamnese durchzuführen.

Von besonderer Bedeutung ist die inhaltliche Aussageprüfung durch eine Realkennzeichenanaylse. Die Aussagepsychologie geht davon aus, dass in einer Aussage mit Erlebnisbezug Realkennzeichen mit höherer Wahrscheinlichkeit auftreten als in einer Aussage ohne Erlebnisbezug. Wichtige Realkennzeichen sind z.B. der Detailreichtum einer Aussage, die Widerspruchsfreiheit, die Beschreibung von Interaktionen mit der Umwelt, die Schilderung eigener psychischer Vorgänge oder überflüssiger Einzelheiten, die wörtliche Wiedergabe von Aussagen oder der Bericht deliktstypischer Merkmale. Auch Selbstbelastungen, Selbstkorrekturen oder das Einräumen von Erinnerungslücken sind bedeutende Realkennzeichen. Neben der Realkennzeichenanalyse kommt der Konstanzanalyse im Hinblick auf Übereinstimmungen, Widersprüche, Ergänzungen und Auslassungen in verschiedenen Aussagen eine besonders hohe Bedeutung zu. Die Konstanzanalyse baut darauf auf, dass eigene Erlebnisse besser erinnert und wiedergegeben werden können als etwa ausgedachte Erlebnisse oder nur in Filmen oder Videoaufnahmen wahrgenommenen Vorgänge.

Die Darstellung der Begutachtung und der dabei erzielten Ergebnisse muss nachvollziehbar und transparent sein. Beispielsweise müssen die der Begutachtung vom Sachverständigen zugrundegelegten Hypothesen im Gutachten im einzelnen bezeichnet werden, die verwendeten Untersuchungsmethoden und Testverfahren  sind zu nennen und es ist zu begründen, warum diese Methoden und Verfahren an gewendet wurden. in der Regel sollten auch Audio- und ggf. Videoaufnahmen der Exploration gefertigt werden.

Zu beachten ist aber immer, dass die Aussagepsychologie keine exakte Wissenschaft ist, insbesondere das Gutachtensergebnis nicht zwingend richtig sein muss. Ein aussagepsychologisches Gutachten liefert im Ergebnis immer nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Aussage erlebnisfundiert ist oder nicht. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass der diagnostische Prozess der Glaubwürdigkeitsbegutachtung oft und schnell an seine Grenzen stößt, z.B. wenn nur unzureichendes Aussagematerial zur Verfügung steht, wenn der Zeuge trainiert wurde, konstante und mit Realkennzeichen versehene Aussagen zu produzieren oder wenn suggestive Befragungen vorausgegangen sind.

Dem Ergebnis des aussagepsychologischen Sachverständigen, also ob eine Aussage erlebnisfundiert und damit glaubhaft ist oder nicht, folgt das Gericht meistens. Gebunden ist es an das Gutachtensergebnis aber nicht. Es kann im Einzelfall unter entsprechender Begründung auch zu einem anderen Ergebnis gelangen als der Gutachter.

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